Interview mit Mongush Kenin-Lopsan
Im Februar 2007 wurde im russischen Magazin "PROFIL" ein Interview veröffentlicht, das hier in
deutscher Übersetzung vorgelegt wird. Übersetzung:Herbert Wagner
Original Seite: http://www.tuvaonline.ru/2007/02/12/kenin-lopsan-profil.html
Das Journal "Profil" machte ein Interview mit dem ehrwürdigen Präsidenten der tuvinischen Schamanen.

In der Februarausgabe des Journals "Profil" (Nr 5 - 2007) wurde Material von Mongush Kenin-Lopsan veröffentlicht: "Schamanen leben in jedem von uns", welches wir hier vollständig wiedergeben. Im Jahr 2002 war im Hochgebirge von Tuva Dürre und Feuer. Die
Feuerwehrleute waren hilflos. Die Verantwortlichen haben sich an den Obersten Schamanen von Tuva gewandt. Er versammelte die stärksten Schamanen. Es wurde von morgens bis abends schamanisiert. In der Nacht
fiel der rettende Regen. Seit damals wird der Oberste Schamane von bekannten Politikern, Wissenschaftlern und Menschen der ganzen Welt besucht.
Herr Kenin-Lopsan, wie ist Ihr Eindruck, wie erklären Sie sich das enorme Wachstum der Schamanengesellschaften in Tuva und den Besucherstrom der Pilger? Ist
das ein Zeichen der Wiederbelebung des Schamanismus?
Es gibt keine Wiederbelebung. Schamanen waren immer ein Teil der tuvinischen Geisteshaltung. Es ist wie der russische Einfluss der orthodoxe Kirche auf die große russische Kultur. Schamanen
sind für Tuviner das Fundament ihrer Weltanschauung. Im Allgemeinen gesagt, begleiten Schamanen die gesamte Menschheitsgeschichte. Erinnern Sie sich, ausgerechnet in der
Höhle wo die Haustiere gehalten wurden und Jesus Christus geboren wurde, überbrachte er das Geschenk des Wahrsagens (Zauberns). Im Grunde waren sie Schamanen und Priester des Heidentums. Die
schamanische Religion ist die erste Religion der Menschheit, und auch die Quelle der geistigen Kultur jeder Ethnie.
Ist es wirklich keine Wiederbelebung? Es gibt in jedem tuvinischen Dorf einige miteinander konkurrierende Schamanen, und die Zeitungen sind voll mit
Werbung: "Aus alter Erbfamilie stammender Schamane".
Von Natur aus sind Schamanen einzeln. Für sie sind Gruppen und öffentliche Vereinigungen nicht notwendig.
Und daß die Schamanen begonnen haben sich in Gesellschaften zu vereinen, wegen dem schweren Leben.
Noch lebt die Erinnerung an die Zeiten von Stalin, in der praktisch alle Schamanen Repressalien ausgesetzt waren. Bis 1932 hatten wir 725 Schamanen in der
Republik. Von den 30`er Jahren bis in die 70`er Jahre war keiner wagemutig genug um zu zeigen, daß religiöse Praktiken ausgeführt werden. Angst und Repressalien zwangen die
Schamanen zusammenzuhalten. Es gibt auch einen anderen Grund. Aufgrund der Einsamkeit und auch der realisierten Isolation der Schamanen, entstanden viele Wege und Ansichten. Dermaßen,
daß Pseudo-Schamanen anzutreffen sind, und es gibt auch kommerzielle Schamanen, vergleichbar mit Wahrsagern, Magiern und den anderen Stümpern (Pfuschern), die keine Verbindung zum historischen
Schamanismus haben. Um sich von ihnen abzugrenzen gibt es Schamanengesellschaften, aber wirklich starke Schamanen gibt es bei ihnen nur wenige. Nach meiner Einschätzung gibt es etwa 300
Personen. Vielleicht 500, denn die Helfer können auch zu Schamanen werden.
Mongush Brochowitsch Kenin-Lopsan, 84 Jahre, oberster Schamane von Tuva, Absolvent der östlichen Fakultät der staatlichen Leningrader
Universität, Doktor der Geschichte, bekannter Ethnograph, Dichter, Schriftsteller, Autor mehrerer Bücher über Schamanismus. 1993 wurde er von Präsident Jeltsin mit einem Orden zur
"Freundschaft der Völker" ausgezeichnet. Im November 2004 unterschrieb Präsident Putin einen Erlass über die Auszeichnung von Kenin-Lopsan mit dem Orden für die Verdienste für das
Vaterland, 2.Stufe. Er ist Besitzer des hochgeachteten internationalen Titels: "Lebendes Monument des Schamanismus" (sie wird unter Führung
amerikanischer und südamerikanischer Universitäten verliehen).
Was bedeutet es als Schamane geboren zu werden? Nach den Legenden wird diese Gabe vererbt und kann nicht erlernt werden.
Zu lernen ist es nicht möglich, aber es wiederentdecken und zu entwickeln ist möglich. Die Menschen kennen oft ihre Möglichkeiten nicht. Hierbei helfen meine Assistenten den Schülern der
Schamanen zu verstehen, wofür sie geeignet sind, oder jagen die Stümper fort.
Gibt es oft solche Vertreibungen?
Es geschieht. Grundsätzlich sind wir offen für alle. Bei uns sind viele Schüler aus Tuva und aus anderen Teilen Sibiriens, aus Moskau, Petersburg, es gibt welche aus Deutschland, England, Amerika
und Frankreich. Jeder, der diese Kurse abschließt bekommt von uns ein Dokument des Zentrums der Wissenschaften über den Abschluss des Studiums des tuvinischen Schamanismus, doch das
bedeutet nicht den Status eines Schamanen. Die Person muß für sich selbst fühlen und lernen in Kontakt mit den Spirits zu kommen. Wir können nur sicherstellen daß der
Anwärter fähig oder nicht fähig ist, diese Bedingungen zu fühlen. Ich will niemanden abweisen, aber ein Pseudo ist sofort sichtbar. Wir danken den Leuten für ihre Studien,
aber Zertifikate geben wir nicht aus. Es gibt auch Geldangebote für ein Diplom, geschmückt mit dem Namen Kenin-Lopsan und einem Foto mit mir. Aber das ist eine Kleinigkeit im Vergleich mit denen,
die einfach nur Pseudos sind. Sie benutzen diesen Umstand um sich als Schamane zu fühlen. Sie erklären sich zu etwas was sie aufgrund der Definition nicht sein können. Die Geschäfte
gehen soweit, daß in den Dörfern in Burjatien, in Primorski Krai und bei uns in Tuva die Bergschamanen wenig gegen das Saufen ausrichten können, ja sogar Alkohol in den Ritualen
benutzen. Das Phänomen nimmt nicht Überhand, hat aber schreckliche Auswirkungen: im Bewusstsein der einfachen Hirten, Bauern und Stadtbewohner entwickelt sich die schreckliche Vorstellung,
den Alkoholismus mit Alkohol zu heilen. Diese selbsternannten Gauner mit diesem Fehler beginnen den Leuten zu schaden.
Erscheint es Ihnen nicht auch so, daß die Errungenschaften dieser Geschäftsleute einen direkten Zusammenhang damit haben, daß Schamanen auch Geld
für ihre Dienste nehmen? Und diese Preise steigen?
Schamanen sind Humanisten. Sie sollen nicht verdienen aber dienen. Wir setzen keine Tarife fest, wir akzeptieren Spenden für die Arbeit, ohne die konkrete Summe zu bezeichnen. In der Taiga helfen die
Schamanen den Menschen im Allgemeinen ohne Geld. Dort ist der Preis in anderen Werten üblich: Brot, Unterkunft, Respekt. Ich kann nichts Schlechtes im finanziellen Ausgleich sehen. Wenn sie hier ins
Krankenhaus gehen, ist es dann nicht so, daß der Arzt für seine Bemühungen bezahlt werden muß? Doktor, Musiker, Poet, Psychologe? So gut wie alle Dienste sollen nicht bezahlt werden? Ein
anderer Grund, der wahre Schamane nennt niemals den konkreten Preis. Er ist zufrieden mit dem, was er bekommt. Er sagt im schlechtesten Fall: "soviel daß es Dir nicht schadet". Er wird niemals in der
Zeitung werben, wird keine goldenen Berge versprechen, er wird nicht über die Zukunft sprechen oder raten. Das Problem liegt darin, daß die Pseudos hohe Preise für nicht existierende Dienste und
Täuschung festsetzen. Ihnen soll man nicht glauben.
Natürlich ist es nicht einfach den wahren Schamanen vom Pseudo zu unterscheiden, wo doch auch Tuviner auf die Lügenschamanen hereinfallen.
Diese Frage kann der deutsche Orientalist Otto Menkhen-Khelfen besser beantworten. Im Jahre 1929, als ich noch ein barfüßiger Junge war, kam er in mein Heimatgebiet bei Khondergei und sprach nicht
mit einem Schamanen. Über die Jahre habe ich bei ihm die wahren Gedanken herausgelesen: In seiner Vorstellung kann kein Schamane die Arbeit eines anderen wiederholen. Verstehen Sie? Die
Geister treffen den, der dafür bereit ist. Falls er eine Trommel für die eigene Sammlung kauft ist es ein Treffen, wenn er heilt ist es ein anderes Treffen, das Beobachten von Ritualen ein drittes, die
Ausbildung zum Schamanen - die vierte, etwas erfahren - die fünfte. Und so weiter ohne Ende. Eines kann ich Ihnen sagen: Die Berührung mit dem Unendlichen ist möglich aber nicht fassbar.
Hart gesagt, es ist unnütz zu kommen?
Ja. Obwohl nach meinen Beobachtungen kommen oft Leute, die ihre Wurzeln verloren haben und die sie jetzt suchen. Sie werden in den industrialisierten Gesellschaften durch die
Globalisierung entpersonalisiert und wünschen sich selbst Schamanen zu sein. Bemerkenswert wie sie die Bücher von Carlos Castaneda oder Michael Harner zu lesen beginnen und sich dann
inspirieren lassen so, als wären sie vorherbestimmt zum Schamanismus. Und wirklich, bei einigen Nationen des hohen Nordens, bei den amerikanischen Indianern, gibt es einen Glauben, daß der
Schamane in jedem von uns lebt, so ist es einfach sich zum Schamanen zu erklären, die Stammesmitglieder verstehen wer ein starker und wer ein schwacher Schamane ist. Aber diese Leute haben ein
Koordinatensystem im Kopf, einen Code, aus dem sie die Informationen von oben lesen können. Bei uns gibt es diese Chiffrierung nicht - eine andere Kultur, ein anderes Denken, ein anderer Weg des Lebens.
Deshalb nehmen die Anwärter oft nur äußerliche Teile von Zeremonien auf, aber im Kopf? Blockierungen, die Unfähigkeit altes Wissen anzunehmen. Diese Unfähigkeit oder Unwilligkeit,
die Stereotypen der Zivilisation abzulegen, überdeckt den Wert der ursprünglichen Werte der Menschheit.
Doch die Nachfahren der Schamanen, wie die Tuviner oder die lateinamerikanischen Indianer, arbeiten nicht nur in der geistigen Welt der Schamanen, sondern auch
mit Buddhismus und Katholizismus. Bedeutet dies, daß auch sie sich von der Wahrheit entfernen?
Bei den Tuvinern gibt es eine Tradition, die immer wieder überprüft wird. Wenn es einem Menschen schlecht geht, bricht er zu einer weiten Reise auf, oder wenn er vor einer schwierigen
Lebensentscheidung steht, geht er zum Lama und zum Schamanen und zur orthodoxen Kirche. Es ist ein Geschenk, das von oben kommt: die Person kann das Wissen nicht verstehen oder Zugang dazu
haben, er fühlt intuitiv, daß Gott eine Einheit ist und alle Religionen aus einer Wurzel kommen.
Und was denken Sie über die Besuche von bekannten Politikern oder Gesellschaftern, die den nicht verwesenden Leichnam des
burjatischen Lama Dashi Dorsho Itigelov besuchen? Ihn haben der Minister des Außenministeriums Rashid Nurgaliev besucht, der Vorsitzenden der Vereinigung der
russischen offen Gesellschaft "Vereinigte Energie Systeme" Anatoly Chubay, die Gouverneurin von Petersburg Valentina Matwienko. Bei den Schamanen war
auch Michael Gorbatschov...
Auf dem Platz, auf dem Sie jetzt sitzen, empfing ich Jury Luzhkov, Boris Jeltsin. Hier waren viele bedeutende Leute. Sie, wie alle Menschen, die an sich selbst arbeiten, brauchen eine
Unterstützung. Und auch in dem Scharfsinn, den sie in sich selbst oder bei den Schamanen suchen. Irgendetwas Ungewöhnliches kann ich darin nicht sehen. So geschieht
es im Leben jedes Einzelnen. Wenn Sie vor einer notwendigen Wahl stehen, entscheiden sich einige für den Weg, sich über andere zu stellen, irgendjemand ist der Wegbegleiter. Der Schamane ist ein
Wegbegleiter wenn Sie so wollen, ein Vermittler im Dialog mit den maximalen Kräften. Jeder hat eine eigene Höhe der Gabe. Viele von ihnen kommen über ernste Traumas, Krankheiten,
Unordnung im persönlichen Leben, und auch durch die Erfahrung des nahen Todes zu einem Blick dafür. Und diejenigen, die sich zum Schamanismus wenden, es ist nicht wichtig wer, Politiker,
Stars oder einfache Menschen, verstehen, daß wenn sie diesem Weg folgen, sollten sie ihre Wahl treffen, und den Preis dafür bezahlen.
Warum gibt es einen so großen Strom von Pilgern nach Tuva? Ist es Mode, Anforderungen an die Heiler oder Wünsche der Erkenntnis von Unbekanntem?
Wenn sie diese Faktoren nennen, es sind nur Startpunkte. Die hierher Kommenden, sowohl die Jungen als auch die Alleswisser, und viele der angesehenen Leute, sie bestätigen etwas gefunden zu
haben, irgendein Geheimnis, sie beginnen zu verstehen und beobachten die traditionellen Repräsentanten. Ich erkläre mir das Phänomen des steigenden Interesses am Schamanismus im
Allgemeinen und in Tuva im Besonderen so, daß die Zeit des Zusammenführens der Strömungen der verschiedenen Religionen zu einem großen Fluss bevorsteht. Uns bietet sich diese
Möglichkeit. Und warum fährt man nach Tuva, weil Tuva eine Urstätte des Schamanismus ist. Weil hier ein ursprünglicher Schamanismus vorhanden ist. Zum großen Glück existiert eine Isolation, Berge,
fehlende Straßen. Zu uns kommen bis heute zum Beispiel keine Züge. Obwohl im Jahre 1993 in der Republik das Zentrum zur Erforschung des Schamanismus gegründet wurde und international anerkannt
wurde, müssen die Autoritäten und Spezialisten aus Europa und den USA trotzdem über Umwege zu uns kommen. Die Sache ist die, daß es keinen direkten Weg zu Weisheit gibt. Einmal
angekommen, können sogar Koryphäen mit nichts zurückkehren. Es hängt davon ab wer und wozu man kommt.
Anmerkungen von Schaman Gerbert
Herr Kenin-Lopsan hat mir 2004 den Auftrag erteilt ein Schamanenzentrum in Deutschland einzurichten. Als erster Ausländer habe ich von Ihm die Erlaubnis bekommen in Tuva zu arbeiten. In 2 dortigen
Schamanenzentren habe ich einige Wochen arbeiten können, diese Erfahrungen sind die Grundlage meiner jetzigen Tätigkeit.
Ich hoffe Ihnen mit der Übersetzung dieses Interviews einen Einblick in die wahren Hintergründe des Schamanismusbooms gegeben zu haben.
Schaman Gerbert, keltisch-skythisch inspirierter Musikschamane und Meister der Klangheilung, März 2007.
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